Kultur
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Wahlkampf im Osten
In Grenzlitz kämpfen die Blauen mit den Grünen
Von Thomas Wagner
Stand: 10:42 UhrLesedauer: 4 Minuten
Die Tochter lieber in die Regenbogen- statt Regelschule schicken, weil es dort weniger Ausländer gibt? Wer den politischen Riss unserer Zeit verstehen will, muss „Im Land der Wölfe“ lesen. Elsa Koesters Roman zeigt die Konflikte besser als jedes Sachbuch.
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Manche Bücher verstehen so zu fesseln, dass der Leser geneigt ist, das Tempo der Lektüre zu drosseln. Er möchte möglichst lang in der geschilderten Welt verweilen. Andere entfalten von der ersten Seite an einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Elsa Koesters Roman „Land der Wölfe“ gehört eindeutig in die zweite Kategorie. Er macht nicht satt, sondern Appetit auf mehr. Woran liegt das? Das Setting könnte gegenwärtiger nicht sein. Die Handlung führt uns in den äußersten Osten von Sachsen, in den fiktiven Ort Grenzlitz nahe der polnischen Grenze. Ein neuer Oberbürgermeister soll gewählt werden.
Im Mittelalter war die durch den Wegzug der Jungen, vor allem der jungen Frauen auf rund 50.000 Einwohner geschrumpfte Stadt durch den Tuchhandel reich geworden. Doch das ist längst Vergangenheit. Die Enttäuschungen der Nachwendezeit stecken den Älteren noch tief in den Knochen, als Nana, die knapp 40-jährige Ich-Erzählerin aus Berlin anreist, um die zupackende in der Region verwurzelte Kandidatin der „Zukunftsgrünen“ Katja Stötzel als Coach in ihrem Wahlkampf zu unterstützen. Eindeutiger Favorit ist Paul Witte, der Kandidat der „Blauen“. Bei einer Veranstaltung trifft sie auf Falk Schlosser, einen seiner Unterstützer, auch ein Rechter also – aber irgendetwas zieht sie zu ihm hin.
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Das klingt wie die Ausgangskonstellation eines Kitschromans. Weit gefehlt. Die Geschichte nimmt immer neue, unerwartete Wendungen, ohne dass wir dabei den Faden verlieren. Wir begleiten Nana in die politischen Versammlungen der „Zukunftsgrünen“, auf das Polizeifest, auf eine Kundgebung der „1-Prozent-Bewegung“ und in das entstehende Baumhaus-Resort, die Rotkäppchensiedlung am Rande der Stadt. Wie im Brennglas erscheinen die Konflikte, die unsere Republik erschüttern: der Kampf um die richtige Klima- und Flüchtlingspolitik, um die sexuelle Identität und die Vernachlässigung der ländlichen Bevölkerung.
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Dabei versucht der Roman kein naturalistisches Abbild der Wirklichkeit zu sein, mit einer Reportage oder einem dokumentarischen Sachbuch hat er nichts zu tun. Doch schöpft die Elsa Koester ihre Geschichten in erstaunlicher Virtuosität aus einer Welt, die der uns bekannten sehr, sehr ähnlich sieht. Einerseits geht der Riss mitten durch die Familien. Man kennt sich – zum Teil seit Schultagen. Man geht sich aus dem Weg, aber es gibt noch Kontaktzonen. Man begegnet sich auf dem Marktplatz, die Kinder gehen in die gleiche Kita und die Betreiberin des veganen Cafés hat kein Problem mit Gästen, die politisch auf der anderen Seite stehen. „Kuchen“, sagt sie Nana, „muss man sich nicht verdienen. Wer einen Kuchen braucht, der bekommt ihn auch, so sehe ich das.“
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Um ihre umtriebige Kandidatin für das laut Umfragen knappe Rennen fit zu machen, versucht die Coachin herauszufinden, wie die Leute vor Ort ticken. Dabei stellt sie aber nach und nach immer wieder auch die Widersprüche des progressiven Milieus in Frage. Etwa, als in einem Gespräch herauskommt, dass Katja Stötzel, die aufgrund ihres zupackenden Engagements auch bei eher konservativ eingestellten Mitbürgern punkten kann, ihre kleine Tochter nicht auf die Regelschule, sondern auf die private Regenbogenschule schicken will. Dort gibt es wenig Ausländer.
Nana trift sich mit Falk Schlosser. Sie will verstehen, wie so ein Rechter denkt, mit welchen Vorschlägen, mit welcher Sprache ihre Spitzenkandidatin auch bei Leuten wie ihn im Wahlkampf punkten könnte. Aber das ist nicht der einzige Grund. Sie spürt bei ihm ein Verständnis, das mit Verlust- und Gewalterfahrungen zu tun hat, die sie teilen.
Gewalt auf allen Seiten
„Abends in den Kneipen“, erinnert sie sich an ihre Zeit in der Berliner Antifa, „tuschelte man von Bordsteinkicks, das war die ultimative letzte Stufe der Gewalt. Einen Nazi so zu erwischen, dass man ihn auf die Straße legen konnte, die Zähne des Oberkiefers auf den Bordstein platzierte und dann Kick.“ Es ist ein atemberaubendes Leseerlebnis, Nana dabei zu begleiten, wie sie zu verstehen beginnt, was sie mit ihrem politischen Gegner verbindet und warum sie zunächst einfach nicht akzeptieren kann, dass ihr älterer Bruder kein Mann mehr sein will.
Als Nana in einer gewaltsam eskalierenden Situation einmal wirklich dringend Hilfe braucht und sie ihre Freunde nicht erreichen kann, ist es ausgerechnet Falk, der ihr hilft, ohne lange zu fragen. Was hat Politik mit Gefühlen zu tun, mit Verletzungen und dem Versuch, sich vor ihnen zu schützen. War es wirklich eine durch und durch rationale Entscheidung, ob eine sich nach links orientierte oder nach rechts? Im Verlauf der Romanhandlung spitzen sich die Konflikte immer mehr zu. Fensterscheiben gehen zu Bruch, ein Fahrrad wird demoliert. Beim multikulturellen Zuckerfest kommt es dann zu Ausschreitungen.
„Im Land der Wölfe“ liefert eine politische Gegenwartsbeschreibung, der kaum ein Sachbuch das Wasser reichen kann. Sein Realismus zeigt nicht bloß, was ist, sondern deutet immer wieder an, dass es Auswege aus der wachsenden Verrohung geben könnte. Atemlos und mit klopfendem Herz an sein Ende gelangt, möchte man sogleich erneut zu lesen beginnen.
Elsa Koester: Im Land der Wölfe. FVA, 320 Seiten, 24 Euro
Thomas Wagner ist Kultursoziologe. Seine vielbeachtete Studie „Die Angstmacher. 1968 und die Neuen Rechten“ erschien 2017.